Gegenrede

Die Geschichtswerkstatt Siegen veröffentlicht hier einen bislang in der „Heimatzeitung“ nicht abgedruckten Leserbrief, dessen Verbreitung uns aber mehr als notwendig scheint. Der Kontext geht aus der einleitenden Bemerkung hervor.

Die Siegener Zeitung veröffentlichte am 21.1.22 unter der Überschrift „Zu devot“ einen höchst befremdlichen Leserbrief von Herrn Wolfgang Ruth aus Hilchenbach, in dem dieser sich dagegen verwahrt, im Zusammenhang mit dem 8. Mai 1945 von einer „Befreiung“ zu sprechen, er persönlich empfinde das als Verhöhnung.

Ab 1933 wurden in Deutschland Millionen von Menschen drangsaliert, schikaniert, terrorisiert, verhaftet, verschleppt, gefoltert, erschlagen, grausam ermordet. Parteien und Gewerkschaften wurden verboten, das Recht wurde abgeschafft und durch die Willkür des Führers und seiner Helfershelfer ersetzt. Brutale Schläger und fürchterliche Juristen, dazu ein Heer willfähriger Beamter, setzten dieses menschenverachtende Terror-Regime durch. Schlimm genug, dass damals viele Deutsche sich nicht unterdrückt fühlten, solange ja ’nur‘ die Nachbarn abgeholt wurden, es deren Hab und Gut war, das frech gestohlen wurde. Schlimm erst recht – ein Schandfleck in seiner Geschichte! –, dass das deutsche Volk es nicht schaffte, sich selbst von dieser kriminellen Mörderbande zu befreien. Kaum begreiflich, aber wahr, dass, als die Alliierten diesem ekelerregenden Spuk nach millionenfachen Opfern ein Ende bereiteten, manche Deutsche sich noch immer nicht befreit fühlten – Altbundespräsident von Weizsäcker hat dazu in seiner großen Rede zum 8. Mai 1985 Wertvolles gesagt.

Dass er in den Nationalsozialismus hineingeboren wurde, kann man Herrn Ruth schwerlich vorwerfen. Dass er nicht befreit worden sein will, kann man – trotz seiner persönlichen Traumata – nur kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen. Dass er sich aber auch 77 Jahre danach noch nicht selbst davon befreit hat und vom eigenen Schicksal offenbar so viel mehr gerührt ist als von dem der Millionen und Abermillionen Toten, das ist unverzeihlich, zeigt es doch genau jene verächtliche Kaltherzigkeit und egoistische Gedankenlosigkeit, die den Faschismus erst möglich machte.

Man weiß daher nicht, was die Siegener Zeitung eigentlich dazu gebracht hat, diesen Brief eines unbelehrbaren Ewiggestrigen überhaupt abzudrucken und damit der Verbreitung für würdig zu erachten. Ist das etwa schon Teil der 180°-Wende in der Beurteilung des Nazi-Terrorregimes? Dem Rufe Siegens und unserer Demokratie haben Sie damit jedenfalls einen Bärendienst erwiesen.

Prof. Dr. Christoph Bode (geborener Siegener), Gundelsheim

8 thoughts on “Gegenrede”

  1. Hallo Herr Kunzmann,
    zum Nachtrag unmittelbar eine Bemerkung. Wir machen das alles ehrenamtlich, insofern ist mit zeitlichen Verzug immer zu rechnen. Ich habe das Email-Konto nicht auf meinem Smartphone. Das soll so bleiben.
    Mit besten Grüßen
    Bernd Plaum

  2. Warum scheint der Geschichtswerkstatt die Verbreitung dieses Elaborats nicht nur „notwendig“, sondern sogar „mehr als notwendig“ zu sein? Warum wird den Lesern der „Gegenrede“ die „Rede“ vorenthalten? Warum darf Herr Bode hier ehrenrührige Urteile („unbelehrbarer Ewiggestriger“, „verächtliche Kaltherzigkeit“, „egoistische Gedankenlosigkeit“) fällen, ohne dass den Lesern die Möglichkeit des Vergleichs beider Standpunkte gegeben wird? Ist es womöglich gar nicht Herr Ruth (der Hilchenbacher Kommunalpolitiker?), der jemandem einen „Bärendienst“ erwiesen hat, sondern Herr Bode – nämlich all denen, die sich um Sachlichkeit in der Geschichtsschreibung bemühen und dafür nicht immer wieder in die Schmuddelecke „linker Ideologen“ gerückt werden wollen?
    Fragen über Fragen …
    (Zu Wolfgang Ruth siehe auch:
    http://www.siwiarchiv.de/gedenken-an-die-ermordeten-hilchenbacher-juden)

      1. Der Leserbrief führt durch die Überschrift in die Irre bei der Suche nach dem Artikel, auf den er sich bezieht. Unter dem Datum 16. bzw. 17.12.2021 findet sich zwar ein Zeitungsbeitrag zur Gedenkveranstaltung, in dem sich das Zitat jedoch nicht befindet. Es taucht hingegen versteckt in einem Artikel mit der Überschrift „Endloser Schrecken“ auf, der den 16.12.1944 u.a. zum Thema hat (Siegener Zeitung v. 17.12.2021). Hier der Leserbrief als pdf-Datei.

        1. Ruths Leserbrief zeichnet sich durch historisches Halbwissen gepaart mit verabsolutierter persönlicher Betroffenheit und eigenwilliger Zitierweise aus. Hier der ganze Satz: „Wenige Wochen vor der Befreiung Siegens durch amerikanische Truppen am 12. März folgte schließlich der dritte und letzte schwere Luftangriff mit 69 Todesopfern.“ 
          Befreiung ist dem Verf. in diesem Zusammenhang zu „devot“ und eine „Zumutung für die meisten betroffenen Menschen“. Die Toten würden das bestimmt anders sehen und ansonsten trifft das nur auf d i e Deutschen zu, deren „Durchhaltewillen“ trotz der offensichtlichen Niederlage ungebrochen war. Das mögen sicherlich nicht wenige gewesen sein. Auch sie galt es in ihren Köpfen zu „befreien“ von einer Diktatur mit menschenverachtender Ideologie, mit NS-Terror und mit Militarismus. Und Alle hat seitdem die „Befreiung“ noch immer nicht erreicht. Die periodisch auftretenden Reaktivierungen des NS seit Kriegsende sprechen jedenfalls nicht dafür und aktuell darin involvierte Personen erhalten durch den Leserbrief noch Rückenwind.

          1. Alles sehr richtig, aber es ändert nichts daran, dass Herr Ruth, Jg. 1937, ein authentischer Zeitzeuge ist und Herr Bode, Jg. 1952, keiner. Letzterer könnte versuchen (sofern er sich für ausreichend qualifiziert hält), der in weiteren Kontexten immer einseitig bleibenden „oral history“ wissenschaftlich fundierte Geschichtsdeutungen zur Seite zu stellen, um auf diese Weise ein abgerundetes Bild zu gewinnen. Seine Mission ist es hingegen nicht, reale Erfahrungswelten zu verdammen und irgendjemandem vorzuschreiben, was diese(r) zu fühlen habe, z.B. 1945 vom Nationalsozialismus befreit worden zu sein. Subjektives Gefühl und objektiver Akt von “Befreiung“ sind etwas gänzlich Verschiedenes. Und letzterer war nun einmal kein Anliegen der Alliierten, nicht im Westen und schon gar nicht im Osten. Sie, lieber Herr Plaum, haben aber mit „in ihren Köpfen zu befreien“ das meines Erachtens entscheidende Stichwort gegeben. Nur wie stellen Sie sich das konkret vor? Es gibt keine zivilisierten Erziehungsmaßnahmen (und Gehirnwäschen oder Lobotomien wollen wir sicher nicht befürworten), um Menschen von fixierten Bewusstseinsinhalten zu „befreien“. Manche waren einsichtsvoll genug, um sich selbst aus dem ideellen Sumpf zu ziehen, andere waren es nicht. Damals wie heute gab es Denker und Quer=Überhauptnicht-Denker. Und sich von etwas abzulenken, heißt nicht, davon befreit zu sein. Man konnte ab 1945 die noch sehr vitalen Relikte des Nationalsozialismus unter den Teppich kehren und vor der dort munter fortlebenden Subkultur die Augen verschließen; man konnte auch am deutschen Tellerrand umkehren und ignorieren, wie sich zahllose Alt-Nazis – oft mit tatkräftiger Unterstützung aus den Reihen der westlichen Alliierten – seit 1945 über den Rest der Welt ausbreiteten und in ihren neuen Heimaten rechtsextreme Netzwerke knüpften oder faschistoiden Diktatoren zur Hand gingen. Meines Erachtens geht es an der historischen Realität vorbei, „Befreiung der Welt vom Nationalsozialismus“ als etwas Gelungenes zu betrachten, das man mit einem Tag des gegenseitigen Schulterklopfens feiern müsste. —
            Die Frage, warum vernunftbegabte Primaten immer wieder offensichtlichen Soziopathen ihr Schicksal anvertrauen, lässt sich allein im Kontext von Politik-, Wirtschafts- oder Sozialgeschichte nicht beantworten. Ein Stichwort, um hier vielleicht weiterzukommen, gab neulich Thomas Wolf, als er in seiner Lothar-Irle-Biographie anmerkte: „Irles Weg in den Nationalsozialismus hat beinahe etwas Idealtypisches.“ Der „idealtypische Weg“ des Menschen, des „stinknormalen Lothar Mustermann“, ist der Weg des geringsten Widerstandes, der Faulheit des Denkens, der Trägheit des Herzens. Er führt unweigerlich früher oder später zu Manifestationen des Unmenschlichen, ob diese nun konkret als Rechtsextremismus, Linksextremismus, „Trumpismus“, großrussische Hybris oder wie auch immer in Erscheinung treten. Es gibt keine „Befreiung“ vom Banausentum. Aber warum funktioniert der Homo sapiens mehrheitlich so? —
            Kleine Anmerkung zum Stil: Es ist überflüssig, Kommentare (wie meinen „Nachtrag“vom 16.2.) mit ca. zweitägiger Verzögerung dann doch noch freizuschalten, wenn in der Zwischenzeit eine ganz neue Situation geschaffen wurde. Mit Ausnahme des mir wichtig erscheinenden Erhard-Zitats dürfen Sie den „Nachtrag“ also löschen. Bitte alles weitere zeitnah und im chronologischen Zusammenhang oder aber gar nicht anzeigen. Danke.

    1. Nachtrag 16. Februar:
      Bundeskanzler Ludwig Erhard am 7. Mai 1965: „Wenn mit der Niederwerfung Hitler-Deutschlands Unrecht und Tyrannei aus der Welt getilgt worden wären, dann allerdings hätte die ganze Menschheit Grund genug, den 8. Mai als einen Gedenktag der Befreiung zu feiern. Wir alle wissen, wie weit die Wirklichkeit davon entfernt ist.“ — Leider nach wie vor sehr aktuell.
      So, das war’s von meiner Seite. Ich bin dann weg.

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