Die Grippe im Siegerland 1918/19

von Bernd D. Plaum

In den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs sahen sich Alte und Junge, Männer und Frauen in Stadt und Land, vor allem aber das medizinische Personal in den Krankenhäusern und Lazaretten mit einer zusätzlichen Herausforderung konfrontiert: der Grippe. Sie erfasste die Zivilbevölkerung und die Militärangehörigen gleichermaßen: Es gab kaum eine Familie, die nicht von der Influenza betroffen war, und es gab kaum einen Betrieb, in dem Mitarbeiter wegen der Grippe nicht fehlten.

Diese hochgradig ansteckende Krankheit trat im März 1918 im US-amerikanischen Bundesstaat Kansas auf, gelangte mit den Soldaten der American Expeditionary Forces auf den europäischen Kontinent. Hier verbreitete sie sich zunächst in den beteiligten Heeren, bevor sie die Zivilisten der kriegführenden Länder zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfasste und schließlich in einer weltweit agierenden Pandemie mündete.[1]


 Abb. 1: Die ›Spanische Lady‹ als Allegorie der Spanischen Grippe, dänische Karikatur von 1918

Den Namen »Spanische Grippe« erhielt sie im Sommer 1918, nachdem im nicht kriegsbeteiligten Spanien zahlreiche Menschen daran erkrankt waren, unter ihnen der König. Von dort gelangten ungefilterte Nachrichten über sie ohne Zensurbeschränkungen in die Welt und deshalb wurde ein spanischer Ursprung der Grippe angenommen.[2] Anderswo wurde 1918 gar nicht oder nur wenig über sie berichtet. Und wenn doch einmal ausführlichere Artikel erschienen, dann vielfach in einem verharmlosenden und beschwichtigenden Grundton.[3]

In der heimischen Presse wurde in zwei Meldungen auf die Grippe Bezug genommen. Das erste Mal am 6. November 1918, als der Verlag der größten Tageszeitung der Region darauf hinwies, wie die Auswirkungen der Grippe den Inhalt und Vertrieb der Siegener Zeitung in Mitleidenschaft zögen.[4] Informationen an das Publikum über die Krankheit, deren Verlauf und Folgen wurden nicht thematisiert. Der Leser machte sich nur angesichts der großen Zahl von Todesanzeigen und des häufigeren Läutens der Totenglocken im Herbst 1918 seinen eigenen Reim darauf. Das dürfte ihn mitunter mehr beschäftigt und in seiner Stimmung stärker beeinflusst haben, als die mittlerweile notorische Erfolglosigkeit an der Front.[5]

Die Siegener Zeitung befolgte offenbar die militärischen Zensurbestimmungen und unterließ jegliche weitere Berichterstattung zur Grippepandemie im Lokalteil.[6] Damit schien die Gefahr gebannt, dass eine ausführliche öffentliche Diskussion über die ungehinderte Ausbreitung des Grippevirus sich zu einer grundsätzlichen Kritik an staatlichen bzw. kommunalen Einrichtungen und deren Handeln auswuchs und letztlich die »Heimatfront« in ihrem Durchhaltewillen schwächte. Die Unterdrückung von Informationen oder die Anwendungen außergewöhnlicher Maßnahmen wie Schulschließungen regten die Entstehung von Gerüchten an; einmal in der Welt, ließen sie sich nur schwer wieder beseitigen.[7]

Die Grippe fand beste Bedingungen für eine Ausbreitung vor. Enge Kontakte in den überbelegten Lazaretten und Krankenzimmern, in den Schulen, sowie in den Fabrikhallen der Schwer- und Rüstungsindustrie, dazu bei einer mangelernährten Bevölkerung geschwächte körperliche Konstitutionen, die in den zur Verfügung stehenden Ersatzstoffen keinen adäquaten Ausgleich fanden. Der vaterländische Frauenverein regte zwar etliche Maßnahmen im Rahmen der Kriegsfürsorge zur Unterstützung von Säuglingen und (Klein-)Kindern an, darunter die Kriegerkinderküche und das Säuglingsheim. Es ging dabei nicht nur um die Beseitigung oder Linderung einer akuten sozialen Notlage, immer stand zugleich die Beschäftigung arbeitsfähiger Frauen in der Rüstungsindustrie im Fokus des Interesses.

Die Sterblichkeit während des Krieges

Die Sterblichkeit lag während des Krieges deutlich höher als in Friedenszeiten. Die Zahlen der folgenden Tabelle verdeutlichen unterschiedliche Entwicklungen: Die Gesamtsterblichkeit nahm im Kreisgebiet während des Krieges zu (Ausnahme 1917), um sich nach dem Kriegsende wieder den Friedensverhältnissen anzupassen. Einen ähnlichen Verlauf lässt sich für eine einzelne Krankheit wie die Tuberkulose konstatieren. Sie verzeichnet während des Krieges ebenfalls eine Zunahme, die sich seit 1916 in einer Größenordnung von einem Viertel des Vorjahres bewegt und erst 1919 wieder umkehrt, sich dann aber bei weitem nicht soweit abbaut, dass sie den Vorkriegsstand erreicht. Ihr Anteil an den Todesursachen beträgt anfänglich knapp zehn Prozent und steigt zunächst langsam, dann 1919 sprunghaft auf siebzehn Prozent an und war damit nach wie vor eine der Krankheiten, die am häufigsten zum Tode führte.[8] Der Verlauf der Grippe wiederum blieb davon gänzlich unberührt. Bis 1917 war sie mit ihrem Anteil von über einen Prozent eine Krankheit wie viele andere, die ihren Einfluss auf die Sterblichkeit ausübten. Mit der Grippeepidemie von 1918 veränderte sich das bis dahin bekannte Bild, denn nunmehr ist sie, noch vor der Tuberkulose, der große »Killer« unter der Bevölkerung, war sie doch für mehr als ein Sechstel aller Todesursachen verantwortlich.

Tabelle: Sterblichkeit während des Ersten Weltkrieges im Kreis Siegen

Jahr

Gesamt

Tuberkulose (Lungen-, Kehlkopf-)

Grippe

1913

1541

153

13

1914

1553

159

23

1915

2319

169

26

1916

2258

212

29

1917

1989

266

k.A.

1918

2752

330

474

1919

1664

285

76

1920

   

195 (bis 1.10.)

Quelle: D.H., Die Verhältnisse ..., Siegerländer Heimatkalender 1921, S. 81-82

Von den 474 Grippe-Verstorben 1918 entfielen allein 443 auf das letzte Quartal des Jahres. 1919 lag die Grippe-Sterberate immer noch über der Rate der Jahre 1913-1916 und nahm 1920 abermals deutlich zu.[9] Insgesamt starben in den zwei Jahren von Oktober 1918 bis Oktober 1920 669 Personen an der Grippe.

In der Forschung zur Grippeepidemie 1918-20 ist immer von drei Grippewellen die Rede: eine schwächere im Frühjahr 1918, der im Herbst des Jahres die mit der stärksten Verbreitung folgte und die aus dem Frühjahr 1919. Am Beispiel der bislang bekannten Zahlen für das Siegerland lassen sich nur die letzten beiden Grippewellen nachweisen. Fand die erste Grippewelle nicht statt?

Die standesamtlichen Sterberegister verzeichneten 1918 keine Todesursachen. Sie sind mithin zur Beantwortung der Frage unbrauchbar. Anhand einer Quelle mit einer solchen zusätzlichen Angabe ließe sich die Häufigkeit einzelner Krankheiten im Verlauf eines Jahres nachvollziehen. Mit der Kriegsgefangenenliste des Amtes Weidenau für den Zeitraum vom 24. März 1916 bis zum 7. Januar 1919[10] lässt sich eine solche Auswertung in einem vertretbaren Aufwand realisieren, zumal sie auf den Zeitraum vom 1. Januar 1918 bis zum 7. Januar 1919 beschränkt bleibt. In diesem einen Jahr kamen Kriegsgefangene mit der laufenden Nummer 297 (S. 57) bis 500 und von Nr. 1 bis 137 in das Lazarett zur stationären Behandlung, insgesamt 340 Personen, für die neben Namen und Herkunft, Diagnose und Arbeitsstelle auch die Todesursache verzeichnet worden war.

Die Influenza bzw. Grippe trat danach erstmals am 1. Juli 1918 in der Einrichtung in Erscheinung als der 31-jährige italienische Landwirt Antonia Savro, aus Riga Botoni, Campo Basso, als Kriegsgefangener bei der Charlottenhütte in Kreuztal beschäftigt, mit einer entsprechenden Diagnose eingeliefert wurde. Nach sechs Tagen wurde er wieder an seine Arbeitsstelle entlassen. Mit ihm zusammen gelangte noch eine weitere Person von der Charlottenhütte ins Lazarett, auch sie an Influenza erkrankt. Auf den gesamten Monat Juli des Jahres 1918 entfielen elf Influenza-Patienten. Danach war die Zahl neuer Patientenaufnahmen mit der Diagnose Influenza / Grippe deutlich rückläufig. Zwischen dem 8. August und 29. September erfolgten keine weiteren Zugänge. Erst ab Oktober nahmen die Neuaufnahmen wieder zu. Insgesamt kamen zehn Kranke mit diesen Symptomen ins Lazarett, davon allein am 31. Oktober vier. Einen Tag später wurden drei weitere Personen eingeliefert, unter ihnen der 32-jährige Installateur Alfons Favre aus Boulogne sur Mer, Pas de Calais, in Frankreich, der ebenso wie zwei seiner Kollegen beim städtischen Gas- und Wasserwerk beschäftigt war. Sie hatten sich offensichtlich unter einander angesteckt und die Krankheit war bei ihnen mittlerweile soweit fortgeschritten, dass als Einlieferungsdiagnose nicht nur Influenza angegeben war, sondern als Zusatzdiagnose auch Lungenentzündung.[11] Binnen vierzehn Tagen Krankenlager waren sie alle drei daran verstorben und wurden anschließend auf einem der Siegener Friedhöfe begraben.

 Abb. 2: Grippepandemie.: Sterblichkeit ausgewählter Städte in Amerika und Europa, 1918-1919

Die Grippewelle des Frühjahrs 1918 ging vielleicht am Siegerland vorbei oder fand nur schwach ausgeprägt statt, so dass sie sich jeder zeitgenössischen Aufmerksamkeit entzog. Der eindeutige Höhepunkt aller drei Grippewellen lag im Herbst 1918, als vom 13. Oktober bis zum 19. November allein 293 Grippetote zu verzeichnen waren, wovon 99 auf die Stadt Siegen entfielen.[12] Und es stand nach zeitgenössischer Ansicht zu vermuten, dass sich unter den zahlreichen Todesfällen an Lungenentzündung, noch etliche befanden, »die unzweifelhaft auf die Grippe zurückzuführen« waren. Der städtische Verwaltungsbericht für 1918/19 bestätigt den Befund, wenn er festhält, dass der »Besuch der Mütterberatungsstelle in den Monaten September bis Dezember durch die Grippe beeinträchtigt« war.[13]

Was in den damaligen Zahlen offen zutage trat, war das ungleiche Verhältnis bei der Zahl der Grippetoten in Stadt und Land Siegen. Während der Bevölkerungsanteil Siegens an der Kreisbevölkerung bei ca. einem Viertel lag, bewegte sich dort der Anteil an den Verstorbenen jedoch bei einem Drittel.[14] Es wurde vermutet, dass das dichtere Zusammenwohnen und die schlechteren Ernährungsverhältnisse in der Stadt zu den dort höheren »Prozentsatz an Todesfällen« führten. Weiterhin wurde registriert, dass einzelne Schulen einen Erkrankungsgrad von dreißig bis vierzig Prozent der Schulkinder aufwiesen und »daß die meisten Todesfälle auf die blühendsten Jahre von 18 bis 30 entfielen«.[15] Außerdem glaubte man, dass insgesamt cirka »die Hälfte der Bevölkerung in leichterer oder stärkerer Form von der Seuche befallen worden« war.

Kreisarzt Dr. Hensgen, auf dessen Angaben einige der obigen Zahlen beruhen, verfasste am 18. November 1918 einen Bericht über die Grippe-Epidemie in Siegen, der am Tag darauf den Weg in die Presse fand. In seiner Funktion als Kreisarzt war er bestens über das Geschehen informiert und nach dem Reichsseuchengesetz von 1900 und dem preußischen Seuchengesetz von 1906 verpflichtet, die Seuche zu bekämpfen.[16] Sein Beitrag war die zweite öffentliche Meldung über die Krankheit, wobei aufgrund einer Formulierung davon auszugehen ist, dass der Text in seiner Gesamtheit oder in Teilen früher abgefasst worden war: Die Passage »Wie dies bei den Kriegsschicksalen jetzt von uns gefordert wird« verweist auf die Zeit des Krieges, die letzten Tage oder Wochen vor der Unterzeichnung des Waffenstillstandes in Compiègne am 11. November 1918. Eine frühere Veröffentlichung dürfte geplant gewesen sein.[17]

 Abb. 3: Dr. Volker Heinrich Hensgen

* 20.2.1848 Stromberg b. Herchen (Sieg) – + 7.5.1923 Siegen

Schulbesuch, Gymnasium Bonn, Medizinstudium in Greifswald 1867-1871, Promotion 1872, seit 1894 Kreisarzt des Kreises Siegen; 1921 Ruhestand

In seiner sachlichen Art sollte der Artikel aufklärend und beruhigend auf das Publikum wirken, hielt aber nicht mit der Beschreibung von drastischen Krankheitsverläufen und Einzelheiten zurück. Damit versuchte er zugleich alle ›wilden‹ Spekulationen über Herkunft und Verbreitung zu kanalisieren, und das Verhalten Kranker und Gesunder in die gewünschten Bahnen zu lenken.[18]

Der Zusammenhang von Krieg und Seuche war für den Kreisarzt »nichts Seltenes in der Weltgeschichte«. Der Verdienst der wissenschaftlichen Medizin war es, diesmal Krankheiten wie »Typhus, Pocken, Cholera, Ruhr und Pest [...] Von der Bevölkerung ferngehalten zu haben«. Geradezu neutral hielt Hensgen das Auftreten der Grippe fest, wenn er schreibt: »da trat ganz plötzlich als ganz unerwarteter Gast von Südeuropa kommend, die sogenannte ›spanische Grippe‹ auf.« Er erinnerte zudem daran, dass Ende der 1880er Jahre schon einmal die Grippe Europa durchzogen hatte, aber nicht mit der aktuellen »Bösartigkeit«. Indem Hensgen von der sogenannten spanischen Grippe redete, distanziert er sich damit von der geografischen Zuweisung, die mit der Namensgebung verbunden war.

Als Krankheitserreger wurde der »Influenzabazill« angesehen, ein kleines, nur bei Vergrößerung sichtbares Stäbchen. »Dieses Pflanzengebilde, welches sich millionenfach in eine Schleimpfropf vorfindet, überwuchert rasch die Schleimhäute, erzeugt einen Katarrh der Nasen-, Hals- und Brustorgane und gelangt bis zu den Enden der baumastförmig in der Lunge verbreiteten Luftröhrenenden. Hier erzeugt der Bazill im Lungengewebe eine Verdichtung[,] die sich oft sehr rasch über die Lunge weiterverbreitet und sehr häufig eine doppelseitige Entzündung derselben erzeugt, die dann meist mit dem Tod endet.«

Hensgen vermittelte hier dem Publikum einen Bazillus als Krankheitserreger,[19] der aber keineswegs gesichertem Wissen entsprach, zu widersprüchlich waren Ergebnisse der Forschungen und die Meinungen über die Ursachen der Grippe. Die Beschreibung der Symptome und der pathologische Befund hingegen fielen allgemein eindeutiger aus, auch wenn es davon Abweichungen gab: »Bei mehreren Untersuchungen von an Grippe Verstorbenen fand ich die Lungen grau oder graugelb gefärbt, ihres Luftgehaltes und ihrer Elastizität fast völlig beraubt, sich fast steinhart anfühlend. Eine solche Lunge kann selbstverständlich nicht mehr atmen und tritt dann der Tod infolge von Luftmangel durch Erstickung ein. Wir sehen aber auch Fälle sehr rasch tödlich enden, ohne das eine Lungenentzündung sich feststellen ließ. Hier muß der Tod auf die Einwirkung von Giftstoffen zurückgeführt werden, welche bewiesenermaßen von den Bakterien abgeschieden werden, die auch das oft auftretende hohe Fieber veranlassen. Auf die Bakterieneinwirkung sind ferner noch der gewöhnlich im Anfang auftretende Frost, der Kopf- und Gliederschmerz der Kranken zurückzuführen. Die meist vorhandenen Kreuzschmerzen dürfen wohl ein charakteristisches Zeichen für die Grippe bilden, da dieselben bei einem gewöhnlichen Katarrh der Luftwege (Erkältungskrankheit) nicht aufzutreten pflegen. (Ursächlich wird für den Kreuzschmerz eine Nierenschwellung angenommen.) 

Was die jetzige, so bösartig auftretende Grippe aber ganz besonders charakterisiert, und was bei früheren Influenzaepidemien nicht beobachtet worden ist, das sind die Schleimhautblutungen. Nicht nur sehr starke Nasenblutungen, sondern auch Magen- und Darmblutungen wurden vielfach beobachtet. Infolge von Blutungen traten bei Frauen bei der Grippe sehr häufig, Fehlgeburten auf, die in zahlreichen Fällen zum Tode führten.«[20]

Hensgen beantwortete ebenfalls die Frage: »Was kann man tun, um sich vor der Seuche zu schützen? Das sicherste ist immer, falls die Not es nicht fordert, die Krankenzimmer, in denen Grippekranke sich befinden, nicht zu betreten und alle diejenigen Gegenstände, welche mit den Kranken in Verbindung gekommen, nicht zu berühren. Ist man aber dazu genötigt, den Verkehr mit infizierten Wohnungen zu unterhalten, so empfehlen sich außer häufigen Waschungen der Hände häufige Reinigungen der Mundhöhle und der Rachenwege in Gestalt von Gurgelungen mit einfachem oder mit Salzwasser. Dies gewährt unfehlbar mehr Schutz, wie das empfohlene Gurgeln mit und Trinken von alkoholischen Mitteln (Kognak). Glaubt jemand[,] ein alkoholisches Stärkungsmittel nicht entbehren zu können, so empfiehlt sich höchstens ein Glas Rotwein. Noch ist darauf zu achten, daß man sich der Außentemperatur entsprechend kleidet bei Eintritt kälterer Jahreszeit; es empfiehlt sich deshalb, sich wärmer zu kleiden, weil bei einer eingetretenen Erkältung die Schleimhäute der Atmungsorgane sich in einem lockeren Zustande befinden, bei welchem ein leichteres Haften und Eindringen der Influenzbazillen ermöglicht werden kann. Man denke auch daran, daß in der frischen Luft sozusagen keine Infektionsstoffe vorhanden sind, vergesse deshalb nicht, sich regelmäßig außerhalb des Hauses zu bewegen.«

Die Empfehlungen des Kreisarztes liefen, in heutigen Worten gesprochen, auf nicht-pharmazeutische Interventionen hinaus: Vermeidung von direkten Kontakten zwischen Kranken und Gesunden, hygienische Maßnahmen wie Reinigung der Hände und Mundspülungen, sowie die Stärkung der Immunabwehr durch Bewegung an der »frischen Luft«. Weitergehende Eingriffe in das öffentliche Leben wurden nicht thematisiert und offenbar auch nicht angewandt. Der damit verbundene Appell richtete sich an die Verantwortung jedes Einzelnen.[21]

Abschließend verbreitete Kreisarzt Hensgen in seinem Artikel Zuversicht: »Für uns alle heißt es jetzt: Kopf hoch! Besonnenheit, Mut und Ausdauer bewahren! Wie dies bei den Kriegsschicksalen jetzt von uns gefordert wird, die von außen uns bedrängen, so gilt es auch bei der Krankheit der Grippe, die uns in unserm eigenen Heim zu schaffen machen kann. Letztere werden wir eher überwunden haben, wie die ersteren und vielleicht befreien uns schon die allernächsten Tage von dem Alp, der in Gestalt der Grippe einstweilen noch schwer auf uns liegt.«

Hensgen schrieb gegen die Befindlichkeit an, dass die Grippe ein »unerwarteter Gast« sei, der als »Alp« Angst und Schrecken erzeuge. Er verschonte das Publikum nicht vor den negativsten Auswüchsen und Begleiterscheinungen der Krankheit, betonte aber zugleich, dass alles nicht so schlimm sei und schon einfachste Mittel ausreichenden Schutz böten. Die abschließende Empfehlung Besonnenheit, Mut und Ausdauer zu bewahren unterstreicht nur den fatalistischen Grundton der Ausführungen: Da müssen wir jetzt durch, egal wie lange es dauert. Als der Artikel erschien, war die zweite Welle der Grippepandemie schon auf dem Rückzug, auch im Siegerland.

In Deutschland starben damals an der Grippe und nachfolgenden Komplikationen (Lungenentzündungen) ca. 340.000 Menschen, weltweit sollen es nach aktuellen Schätzungen mindestens 50 Millionen gewesen sein.[22]

Die Grippepandemie von 1918 war knapp drei Jahrzehnte später den damals Lebenden immer noch erinnerlich und damit ein geläufiger Bezugspunkt in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Beispiel dafür ist der aus Siegen stammende ehemalige Arnsberger Regierungspräsident Fritz Fries (*1887 - †1967 / RP 1945-1949),[23] der den Gesundheitsämtern im November 1945 mit auf den Weg gab: »Es ist ganz zweifellos, daß eine schwere Grippe-Epidemie in der Art der von 1918 bei dem augenblicklichen Gesundheitszustand unserer Bevölkerung die allerverheerendsten Folgen haben kann. Wenn es sich auch bisher gezeigt hat, daß die Maßnahmen zur Eindämmung solcher Pandemien wenig Erfolg versprechen, so ist dies keineswegs ein Anlaß, der drohenden Gefahr fatalistisch entgegenzusehen. Es ist vielmehr die Pflicht aller im Gesundheitsdienst Tätigen, so viel wie möglich der Ausbreitung einer solchen Seuche entgegenzutreten.«[24]

 

Mein Dank gilt Ludwig Burwitz und Christian Brachthäuser. Für weitere Hinweise auf die Grippe 1918/20 im regionalen Kontext wäre ich dankbar.

Bernd D. Plaum

Abbildungen: Abb. 1: Wilfried Witte, Tollkirschen und Quarantäne, Frontispiz; Abb. 2:  https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Spanish_flu_death_chart.png; Abb. 3: Fritz Stähler, 90 Jahre Medizin im Siegerland, Siegen 1975, S. 17

Literatur

Bezirksregierung Arnsberg (Hg.), Wandel gestalten - Vielfalt leben. 200 Jahre Bezirksregierung Arnsberg, Arnsberg 2016

Brachthäuser, Christian, Zwischen Fronterlebnis und Krankenfürsorge. Der Vereinslazarettzug T3 Stadt und Kreis Iserlohn, Altena, Olpe und Siegen des Roten kreuzes im Ersten Weltkrieg, Siegener Beiträge Sonderband 2018, Siegen, 2018

Brachthäuser, Christian, »[...] um im Falle einer Mobilmachung [...]« Der Vaterländische Frauenverein für den Kreis Siegen, Siegener Beiträge 19, 2014, S. 138-153

Faulenbach, Bernd / Högl, Günher / Rudolph, Karsten (Hgg.), Vom Außenposten zur Hochburg der Sozialdemokratie. Der SPD-Bezirk Westliches Westfalen 1893-1993, Essen 1993

Göbel, Gerhard W. / Plaum, Bernd D., Armut, Krankheit und Tod im Siegerland. Zur Sozialgeschichte vor und nach dem Krankenhausbau im 19. Jahrhundert, Siegen 1986

D.H. [Hensgen?], Die Verhältnisse der Sterblichkeit der Siegerländer Bevölkerung während des letzten Krieses und der nachfolgenden Zeit, in: Siegerländer Heimatkalender 1921, S. 81-82

Huerkamp, Claudia, Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert vom gelehrten Stand zum professionellen Experten – das Beispiel Preußen, Göttingen 1985

Labisch, Alfons / Tennstedt, Florian, Der Weg zum »Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens« vom 3. Juli 1934, 2. Teile, Düsseldorf 1985

Lorenz, Victoria Daniella, Die Spanische Grippe von 1918/19 in Köln: Darstellung durch die Kölner Presse und die Kölner Behörden, Diss. Uni Köln, Köln 2011

Michels, Eckard, Die »Spanische Grippe« 1918/19. Verlauf, Folgen und Deutungen in Deutschland im Kontext des Ersten Weltkriegs, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 58.1, 2010, S. 1-33

Mommsen, Wolfgang J., Deutschland, in: Hirschfeld, Gerhard / Krumeich, Gerd / Renz, Irena (Hgg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn u.a. 2009, S. 15-30

Müller, Andreas, Der Wiederaufbau und die alten Eliten. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Bezirksregierung Arnsberg (Hg.), Wandel gestalten, S. 68-79

Neuhaus, Otto, Die Friedensinsel, Tagebuch einer Fabrikpflegerin im Ersten Weltkrieg, MS, Unna 2008

Rengeling, David, Vom geduldigen Ausharren zur allumfassenden Prävention. Grippe-Pandemien im Spiegel von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, Baden-Baden 2017

Plaum, Bernd D., Über den Zusammenhang von Armut, Krankheit und Tod im Siegerland, in: Göbel/Plaum, Armut, Krankheit und Tod, Siegen 1986, S. 28-49, 56-61

Sons, Hans-Ulrich, Gesundheitspolitik während der Besatzungszeit. Das öffentliche Gesundheitswesen in Nordrhein-Westfalen 1945-1949, Wuppertal 1983

Spinney, Laura, 1918. Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte, München 2018

Stähler, Fritz, 90 Jahre Medizin im Siegerland, Siegen 1975

Vasold, Manfred, Spansiche Grippe, 1918/19, in: Historisches Lexikon Bayerns, in: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Spanische_Grippe,_1918/19 [19.3.2020]

Witte, Wilfried, Tollkirschen und Quarantäne. Die Geschichte der Spanischen Grippe, Berlin 2010

Zabel, Manfred, Fritz Fries (1887-1967), in: Faulenbach u.a. (Hgg.), Vom Außenposten, Essen 1993, S. 180-181

Zabel, Manfred, Die Heimatsprache der Begeisterung. Ausgewählte Reden und Schriften von Fritz Fries, Siegen 1990

Anmerkungen

[1] Zum Verlauf vgl. Witte, Tollkirschen und Quarantäne, S. 1-17; Spinney, 1918. Die Welt im Fieber, S. 49-59, auf den Seiten 181-195 mit weiteren Erzählungen zum Ausgangspunkt der Pandemie.

[2] Ebd.

[3] Die Kölner Presse in dieser Hinsicht ausgewertet hat die medizinische Dissertation von Lorenz, Spanische Grippe. Kölner Zeitungen wurden auch im Siegerland wahrgenommen.

[4] Insgesamt war das öffentliche Leben im Oktober und November 1918 durch die Grippe erheblich gestört, vgl. Michels, Spanische Grippe, S. 19.

[5] Vgl. Mommsen, Deutschland, S. 27-29; Michels, Spanische Grippe, S. 7-10, zur Stimmungslage ebd., S. 21.

[6] Im Zuge der Vorbereitungen zur Ausstellung »Siegen an der Heimatfront. Weltkriegsalltag in der Provinz« 2016 wurde der Lokalteil der Siegener Zeitung für den Zeitraum 1914 bis 1918 auf relevante Meldungen durchgesehen. Zur Influenza / Grippe gab es keine eigenen Einträge, mitunter finden sich in anderen thematischen Bezügen Hinweise auf die lokale Verbreitung und die Stimmungslage während der Pandemie. Hier ist aber an die Möglichkeit zu denken, dass die »Schere im Kopf« der Journalisten ihre Wirkung entfaltete und den Charakter des Blattes einmal mehr in seiner strammen obrigkeitshörigen Tendenz bestimmte, vgl. Michels, Spanische Grippe, S. 10-12.

[7] Witte, Tollkirschen, S. 1-17. Ob es im Siegerland z.B. zu Schulschließungen gekommen ist, lässt sich nicht sagen. Die von mir eingesehenen Schulchroniken machen dazu keine Angaben, vgl. Michels, Spanische Grippe, S. 19-21, wonach die Entscheidung dafür letztlich bei den Kreisärzten lag und der Reichsgesundheitsrat eben keine solche allgemeine Empfehlung aussprach. Insgesamt scheint das Wissen um die Grippe rudimentär gewesen zu sein, vgl. dazu das Tagebuch der Fabrikpflegerin Lina Neuhaus, die von 1917-19 bei der Firma Hoffmann in Eiserfeld tätig, war. Sie erwähnt die Krankheiten Influenza und Grippe nicht explizit, vermerkt gleichwohl Todesfälle von Lungenentzündung nach kurzem schwerem Krankheitsverlauf, dabei könnte es sich um Fälle von Influenza gehandelt haben, vgl. Otto Neuhaus, Die Friedensinsel, passim. Eine Fassung des Tagebuchs befindet sich im Deutschen Tagebucharchiv (DTA) in Emmendingen.

[8] Plaum, Armut.

[9] Ob die Grippetoten von 1920 unter der »Spanischen Grippe« zu vereinnahmen sind, ist fraglich, vgl. Witte, Tollkirschen, S. 16; Michels, Spanische Grippe, S. 25, verbucht sie unter einem Grippejahrfünft mit jährlich hohen Zahlen an Grippe-Erkrankungen und Todesfällen.

[10] StA Siegen, Bestand 151 (Amt Weidenau), Nr. 709: Kriegsgefangenen-Liste des Reserve-Lazaretts Siegen i.W., Teil-Lazarett Weidenau.

[11] Zu den Komplikationen bei der Grippe vgl. Witte, Tollkirschen, S. 31-48.

[12] SZ v. 19.11.1918.

[13] Verwaltungsbericht der Stadt Siegen 1818/19, S. 7.

[14] Vgl. Michels, Spanische Grippe, S. 18.

[15] Vgl. Spinney, 1918. Welt im Fieber, S. 92-93.

[16] Huerkamp, Aufstieg der Ärzte, S. 175; Labisch / Tennstedt, Der Weg zum Gesetz Bd. 1, S. 50.

[17] Der Text wäre kritisch in seinen Bestandteilen zu analysieren und mit anderen Veröffentlichungen zu vergleichen, denn es besteht die Vermutung, dass sowohl Hensgen als auch andere Autoren sich einer gemeinsamen Vorlage bedienten. Diesen Eindruck kann man gewinnen, wenn man den vorliegenden Text neben denen des Wittgensteiner Kreisblattes legt, vgl. die Hinweise in https://www.siwiarchiv.de/regionalhistorische-literatur-zur-seuchengeschichte-in-den-altkreisen-siegen-und-wittgenstein/#comments; vgl. dazu auch Lorenz, Spanische Grippe, mit der Kölner Berichterstattung.

[18] Vgl. Spinney, 1918. Welt im Fieber, S. 96-103, mit dem Verlauf der Grippe in der spanischen Stadt Zamora, wo die katholische Kirche mit ihren Riten, Messen und Prozessionen maßgeblich an deren Ausbreitung beteiligt war, die örtliche Presse getreulich darüber berichtete und sie zugleich die unhygienischen Verhältnisse anprangerte.

[19] Die virologische Grippeforschung war späteren Datums; das Grippevirus wurde erst 1933 entdeckt, vgl. Witte, Tollkirschen, S. 69; Spinney, 1918. Welt im Fieber, S. 81-84, 116.

[20] Vgl. Witte, Tollkirschen, S. 31-48; Spinney, 1918. Welt im Fieber, S. 92-93.

[21] Die Ratschläge entsprachen im Wesentlichen den Empfehlungen des Reichgesundheitsrates vom 16.10.1918, vgl. Michels Spanische Grippe; Rengeling, Vom geduldigen Ausharren, S. 55.

[22] Michels, Spanische Grippe, S. 27; Witte, Tollkirschen, S. 17; Spinney, 1918. Welt im Fieber, S. 200-202.

[ 23] Zur Person vgl. Zabel, Fritz Fries (1887-1967), in: Faulenbach u.a. (Hgg.), Vom Außenposten, S. 180-181; Ders., Heimatsprache; Müller, Wiederaufbau, S. 70, mit abweichenden Zahlen zur Biografie,

[ 24] Zit. nach Sons, Gesundheitspolitik, S. 155.